Risiken und Chancen der Kompetenzorientierung

Die deutsche Pädagogik und Fachdidaktik kennt momentan eigentlich nur zwei Begriffe: Kompetenzorientierung und Bildungsstandards. Als Folge der PISA-Ergebnisse hat man sich auf Neuerungen besinnt und versucht abprüfbare Kompetenzen (Standards) zu formulieren, die in gewissen Schulstufen (bzw. mittlere Reife und Abitur) abprüfbar bei Schülerinnen und Schülern vorhanden sein müssen.

Diesen deutlichen Umschwung bekomme ich gerade in dieser Zeit, in der ich diesen Beitrag schreibe und mich in der Endphase meines Referendariats befinde, sehr deutlich mit. Das „alte“ Konzept vom Lehrplan mit überwiegend inhaltlichen Vorgaben wird zugunsten eines Katalogs von zu erwerbenden Kompetenzen wie Fachwissen, Methodenkompetenz, Kommunikationskompetenz, Sozialkompetenz, Sprachkompetenz usw. aufgegeben. Der Fokus liegt demzufolge nicht mehr auf dem Wiederkäuen von Inhalten, sondern auf dem, was vom Schüler erwartet wird und was er situationsspezifisch umsetzen kann.

Chancen

Natürlich möchte man durch die Bildungsstandards – wie der Name ja auch schon andeutet – Vergleichbarkeit zunächst innerhalb der Länder (durch Landesabitur und gemeinsame Abschlussprüfungen zur Mittleren Reife) und dann zwischen Ländern schaffen. Das soll zur Qualitätsentwicklung und -sicherung führen. Damit einher geht auf fachdidaktischer Ebene ein hohes Maß an Methoden, die vermittelt werden. Im naturwissenschaftlichen Unterricht liegt der Fokus nicht mehr auf Inhalten und vielleicht einem Transfer eines gelernten Inhalts auf einen anderen Sachverhalt unter anderen Vorzeichen, sondern auf tatsächliches Einüben gewisser Komptenzen im Umgang mit beispielsweise Chemikalien, Experimenten, Diagrammen und ähnlichem. In den Naturwissenschaften mag diese Kompetenzorientierung auch noch sehr leicht zu bewerkstelligen sein. Ungleich schwerer tun sich die Fachdidaktiker in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern wie PoWi (Politikwissenschaft/Sozialkunde), Geschichte oder auch Religion. Welche Kompetenzen sollen hier vermittelt werden, die über soziale Kompetenzen in Gruppenarbeiten und das Auswerten von Quellentexten hinausgehen? Ist es nicht gerade z.B. in Geschichte wichtig auch Fakten (Jahreszahlen, Ereignisse) zu kennen?

Risiken

Um eines gleich vorwegzunehmen: Kompetenzorientierung und Bildungsstandards schließen nicht aus, dass pure Fakten und Inhalte vermittelt werden. Die Frage ist nur, wie Inhalte angemessen umgestaltet werden, damit sie sowohl Kompetenzen trainieren und üben können und später auch abprüfbar machen.

Ein großes Risiko, das ich aus meinen Erfahrungen im Referendariat sehe, ist, dass Schülerinnen und Schüler noch nicht an Kompetenzorientierung „gewöhnt“ sind. Das führt dazu, dass Lernende möglicherweise in dem Glauben bleiben, „nichts“ zu lernen, weil sie eben nicht stupides Faktenwissen pauken wie es früher der Fall war. Dass sie tatsächlich etwas gelernt haben (= Kompetenzen erworben haben) merken sie unter Umständen erst Wochen oder Monate später, wenn die Kompetenz in einem anderen Zusammenhang abgefragt wird. Allerdings frustriert diese Vorgehensweise und diese Art von Unterricht zwangsläufig Schülerinnen und Schüler. Daher muss eine Lehrkraft unbedingt sicherstellen, dass vermittelte Kompetenzen unmittelbar angewendet werden können und zu positiven Erfolgserlebnissen führen. Nur so kann zwangsläufig die Motivation für einen innovativen, kompetenzorientierten Unterricht aufrechterhalten werden. Den Lernenden muss jederzeit transparent gemacht werden, was sie gerade tun und warum sie dies tun.

Kompetenzorientierung im Englischunterricht

Für Englischlehrer gibt es spätestens seit der Einführung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen eine Standardisierung für Kompetenzen, an denen man sich gut orientieren kann. Diese werden aufgegliedert nach Spoken Interaction, Reading, Listening, Spoken Production und weiteren und zeigen auf jeder Kompetenzstufe gewisse Fähigkeiten, die Lernende haben sollten. Damit kann ein Lehrer gezielt auch diagnostizieren, auf welcher Stufe seine Schüler sich befinden und in dem Fall dann kompetenzorientiert eine Unterrichtseinheit planen, die der Lerngruppe ermöglicht, die nächste Stufe zu erreichen. (Auf den GER als Diagnose- und Planungsinstrument werde ich in einem späteren Artikel noch näher eingehen.)

Kritisch zu sehen ist allerdings insbesondere die Isolierung von überprüfbaren Kompetenzbereichen. Dies hat Jochen Lüders in einem ausführlichen Artikel bereits dargelegt. Als Beispiel führt er an, dass in standardisierten Hörverständnisübungen einfach keine Rechtschreibfehler gewertet werden – d.h. hier soll lediglich die Kompetenz Listening, aber nicht die Kompetenz Writing überprüft werden. Mit Recht schreibt er:

Plötzlich entstehen Bereiche, in denen richtige Schreibung nicht mehr wichtig ist, man muss nicht mehr Englisch in seinen verschiedenen Ausformungen “können”, sondern nur noch isolierte Teilfertigkeiten wie Hörverstehen, Grammatik usw. beherrschen. Alle diejenigen, die richtig schreiben, fühlen sich “bestraft”, denn es wird ja nicht mehr zwischen richtig und falsch unterschieden. (Quelle)

Auch Thomas Rau kritisiert in einem Blogbeitrag zur Kompetenzorientierung, dass dieser Trend unter Umständen dazu führt, dass das Niveau dadurch sinkt, dass die Kompetenztests gar nicht das abprüfen, was sie sollen. Er führt ein Beispiel aus dem bayerischen Musterabitur eines Englischleistungskurses an:

Von den 20 Punkten für Hörverstehen kriegt man 10 Punkte durch True/False- oder Multiple-Choice-Aufgaben. An diesen 10 Fragen habe ich mich bei Erscheinen des Musterabiturs versucht und beim ersten Versuch 9 richtig beantwortet – ohne den Hörtext je angehört zu haben. Benutzt habe ich Lesekompetenz, Testerstellungskompetenz (zugegeben, das ist kein Ziel für Schüler) und vor allem Wissen, das hier auch getestet wird. (Quelle)

Das bedeutet: Es sollte überlegt werden, ob entweder Tests tatsächlich isoliert Kompetenzen abfragen (dann aber auch nur diese eine Kompetenz – dies macht das Testdesign natürlich ungleich schwierig), oder ob man nicht innerhalb ein und demselben Test gewisse Schwerpunkte gewichten kann. Warum keinen Bewertungsschlüssel einsetzen, der nach einer bestimmten Gewichtung sowohl Texterstellungskompetenz als auch Lesekompetenz und Hörverstehenskompetenz überprüft?

Die Folge: Abwarten und Mitmachen

Die erste PISA-Runde lief in 2000. Die Entwicklung von Bildungsstandards hat auch bereits eine gewisse Zeit in Anspruch genommen (der erste KMK-Beschluss kam 2002) und manche Bundesländer haben sie noch gar nicht für alle Fächer abgesegnet, geschweige denn vorliegen. Es scheint so, als herrsche immer noch zu viel Aktionismus. Und für alle Ideen und Materialien, die veröffentlicht wurden, gibt es noch keine Erfahrungen und evaluierte Studien. Prof. Dr. Klein von der Universität Frankfurt schreibt gar:

Die Umstellung erfolgt bis heute weitgehend blindlings und konzeptlos. Jedes Bundesland erstellt je nach politischer Ausrichtung eigene Kerncurricula, die jegliche Kohärenz untereinander und auch zwischen den einzelnen Schulformen vermissen lassen. (Quelle)

Die Entwicklung werde ich – wie alle anderen Kolleginnen und Kollegen auch – weiter verfolgen. Diese grundlegende und tiefgreifende Umstellung muss weiter diskutiert und evaluiert werden, Kolleginnen und Kollegen sollten mit in die Diskussion einbezogen werden. Die Frustration, die aus vielen Beiträgen und Publikationen von Lehrkräften und Wissenschaftlern spricht, zeigt, dass die Debatte noch lange nicht abklingen wird.

In diesen Beitrag einbezogene Fachliteratur

Leupold, Eynar (2010): Bildungsstandards. In: Hallet, Wolfgang/Königs, Frank G. (Hrsg.) (2010): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze-Velber: Klett Kallmeyer. (Prof. Dr. Eynar Leupold stellt in dem Beitrag auch weitere, Bildungsstandards gegenüber kritisch, aber auch positiv eingestellte Artikel vor.)

Foto: “Buzzword Cubes: Standards ” © iStockphoto.com | porcorex

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Ein Kommentar

  1. Erstellt am 15. Juli 2010 um 11:16 | Permanent-Link

    Unser Bildungssystem ist nicht ganzheitlich genug, darum dreht sich auch viel zu viel ,um Faktenwissen und auswendig lernen. Es ist leider auch der viel zu wenig praxisnah. Das betrifft aber auch das Lehramtsstudium! Daher muss man sich fragen, wie sollen dann die Lehrer praxisnahen Unterricht vermitteln, wenn sie es selber nicht gelernt haben? Da können die Kollegen diskutieren und diskutieren, es wird aber zu keinem Resultat kommen – drum braucht es viel mehr Quereinsteiger aus dem realen Leben, das müsste man vielmehr fördern.

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