Der Placebo-Effekt der Irlen-Folien

In der LRS-Therapie wird den Kindern oft empfohlen, Farbfolien zu verwenden, damit sie besser lesen können. Dieser Ratschlag basiert auf der Hypothese des skotopischen Sensitivitäts-Syndroms (auch Irlen-Syndrom genannt), bei dem man davon ausgeht, dass manche Menschen eine erhöhte Sensibilität gegenüber Licht bestimmter Wellenlängen haben. Lesen (und die allgemeine visuelle Wahrnehmung) kann dabei beeinträchtigt sein, sodass der Einsatz einer transparenten, aber farbigen (= andere Wellenlänge bei visueller Rezeption) Folie möglicherweise diesen Stress mindert.

Wissenschaftlichkeit?

Die Hypothese um das Irlen-Syndrom ist höchst umstritten. Wissenschaftliche Untersuchungen im englischsprachigen Raum waren (besonders bis zur Jahrtausendwende) oft wenig aussagekräftig, stützten sich auf subjektives Empfinden einzelner Probanden und konnten daher oft nicht repliziert werden. Möglicherweise können die Folien den Stress mindern, der bei der Betrachtung von Buchstaben auftritt – ob er den Leseprozess an sich fördert, konnte bislang nicht überzeugend bestätigt werden, wie auch ein zusammenfassender Artikel bei Rainer Mohr zeigt.

Eine Bachelorarbeit von Nadja Höger an der HU Berlin (ausgezeichnet mit dem Humboldt-Preis) zeigte durch Fragebögen, dass die eingesetzten Folien bei 95% der Anwender die Störsymptome beim Lesen beseitigten. Die Untersuchungskonstruktion bestätigte, dass die Kinder sich selbst einbilden (suggerieren), besser lesen zu können. Der klassische Placeboeffekt.

Placebo in der Therapie?

Dennoch ebbt die Kritik um den Einsatz der Folien nicht ab. Zum einen zu Recht: Es fehlen bislang aussagekräftige, replizierbare Ergebnisse, die belegen, dass die Leseleistung tatsächlich zunimmt. Aber: Wenn die Kinder subjektiv besser lesen (bzw. den Text wahrnehmen) können und somit weniger Stress empfinden, rechtfertigt das nicht vielleicht schon den Einsatz der Folien als Placebo? Schließlich entbehren auch viele homöopathische Arzneimittel jeglicher wissenschaftlicher Grundlage und setzen auf genau diesen Placeboeffekt …

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Verwendete und weiterführende Literatur

Bouldoukian, J. et al. (2002): Randomised controlled trial of the effect of coloured overlays on the rate of reading of people with specific learning difficulties. Ophthal. Physiol. Opt., 22, 55-60.

Högner, N. (2008): Befragung zur Wirksamkeit von farbigen Filterfolien und -gläsern bei diagnostiziertem IRLEN-Syndrom hinsichtlich der Beseitigung cerebral bedingter Störsymptome beim Lesen und Schreiben. blind – sehbehindert, Zeitschrift für das Sehgeschädigtenbildungswesen, 128, 118-123.

Ritchie, S.J., Della Sala, S., McIntosh, R.D. (2011): Irlen colered overlays do not alleviate reading difficulties. Pediatrics, 128, 932-938.

Robinson, G.L. & Foreman, P.J. (1999): Scotopic sensitivity/Irlen syndrome and the use of coloured filters: A long-term placebo controlled and masked study of reading achievement and perception of ability. Perceptual and Motor Skills, 89, 83-113.

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  • Dieser Blog beschäftigt sich mit der Förderung legasthener oder lese-rechtschreib-schwacher Englischlerner. Hier sollen Lösungen für LRS-Schüler/innen und deren Trainer/innen und Lehrkräfte vorgestellt und diskutiert werden.